Einschätzungen aus jüdisch-messianischer Perspektive von Pastor Evan Thomas, Beit Asaph in Netanya
Der 7. Oktober (der 5. Tischri) rückt näher und wir blicken mit schweren Herzen auf dieses schreckliche Kriegsjahr zurück. Mit dem folgenden Artikel möchte ich Ihnen Einblicke geben in meine persönliche Entwicklung als israelischer Pastor, wie ich Antworten bzw. Trost aus der Heiligen Schrift als Anleitung zum gemeinsamen Gebet gefunden habe. Dieser unauflösbare Konflikt betrifft nicht nur unsere Region im Nahen Osten sondern die ganze Welt.
„Von den Zeiten aber und Stunden, Brüder und Schwestern, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen: „Friede und Sicherheit“, dann überfällt sie schnell das Verderben wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entrinnen. Ihr aber seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme.“ (1. Thessalonicher 5, 1-4)
Dieser bekannte Text hilft mir die aktuelle Situation einzuordnen. Ich betrachte es sozusagen als „Generalprobe“ für das zweite Kommen Yeschuas. An diesem Tage wird er nicht als gnädiger Retter sondern als gerechter König mit dem Zepter des Gerichts wiederkommen. Vers 4 spricht von unserer Rolle als Nachfolger des Messias als „Söhne und Töchter des Lichts“.
Wir sollten daher unbedingt auf die sozialen Auswirkungen dieser katastrophalen Zeiten achten, um mit der Weisheit und dem Verständnis des Reiches Gottes beten zu können, damit wir nicht in die Falle einer zu starken Loyalität mit der einen oder der anderen Seite geraten und auf politische Rhetorik und Desinformationen hereinfallen, die von verschiedenen Plattformen in den Medien verbreitet werden.
Die Mehrheit der Juden in Israel betrachtet unsere derzeitige Lage als existentiell. Das bedeutet, wenn wir keinen Krieg mit dem Ziel führen, unsere Feinde zu zerstören (Hamas in Gaza und Hisbollah im Libanon), setzen wir die Existenz Israels aufs Spiel! Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen haben uns die letzten Monate gezeigt, dass unsere Regierung dieses Primärziel sogar über die Sicherheit und das Wohlbefinden der Geiseln stellt, die noch in den Tunneln unterhalb Gaza gefangengehalten werden. In der Israelischen Gesellschaft besteht eine tiefe Spaltung hinsichtlich der Regierungspolitik und deren Militärstrategien. Diese Spaltung trägt dazu bei, unsere Entschlossenheit als Nation zu schwächen.
Mittlerweile mussten ca. 80.000 israelische Staatsbürger aufgrund der andauernden Raketenangriffe seitens der Hisbollah im Abstand von fünf Kilometern von unserer Nordgrenze zum Libanon evakuiert werden. Sie wissen nicht, wann sie jemals wieder in ihre Häuser, an ihre Arbeitsplätze, auf ihre Felder und ihre Kinder an ihre Schulen zurückkehren können.
Doch es gibt auch gravierende gesellschaftliche Folgen für die palästinensischen Bewohner des Westjordanlandes (z.B. Bethlehem) und die arabischen Israelis (z.B. Nazareth). Die Bewohner des Westjordanlandes befinden sich im totalen Lockdown, können also nicht an Arbeitsplätze in Israel gelangen, auch wenn sie zuvor eine Genehmigung dafür besaßen. Städte wie Bethlehem und Nazareth sind extrem vom Tourismus abhängig, vor allem mit Blick auf die bevorstehende Weihnachtszeit. Natürlich sind zur Zeit wenige bis gar keine Touristen im Land. Im Westjordanland gibt es kein nennenswertes soziales Absicherungssystem, was bedeutet, dass die Leute buchstäblich anfangen zu hungern. Lokale Kirchengemeinden tun alles was sie können, um mit Spendengeldern von Christen aus aller Welt und auch mit der Hilfe von einigen messianischen Gemeinschaften praktische Hilfe zu leisten.
Die Notlage der Christen im Zentrum von Gaza ist katastrophal! Sie harren inmitten der sie umgebenden Trümmerwüste in zwei Kirchen aus, in denen sie Schutz gesucht haben, verängstigt und alleingelassen. Sie glauben nicht an eine sichere Evakuierung in den Süden, haben Angst vor der israelischen Armee und empfinden ihre Situation als ausweglos. Viele Christen rufen nach internationalen Maßnahmen für diese wertvollen Brüder und Schwestern (ca. 1.000 Menschen), die trotz ihrem furchtbaren Leid immer noch an ihrem Glauben festhalten.
Was mich aber am meisten bekümmert, ist die weltweit wachsende Spaltung unter den Nachfolgern Jesus. Ich werde die weisen mahnenden Worte eines früheren Mitarbeiters (ein palästinensischer christlicher Leiter) nie vergessen, der sagte: „Wenn wir einer Theologie anhängen, die behauptet, Gott habe abgeschlossen mit Israel und alle seine Verheissungen würden nur noch für die Kirche gelten, führt das unweigerlich dazu, dass wir Israel hassen.“ In den letzten Monaten posteten einige uns persönlich bekannte Christen leider entsprechende Kommentare auf Social Media.
Kürzlich wurde veröffentlicht, dass ein Drittel aller Israelis seit dem „Schwarzen Sabbat" am 7. Oktober an posttraumatischen Belastungsstörungen leidet. Wir können sicher davon ausgehen, dass dies auch auf die meisten der zwei Millionen Palästinenser in Gaza zutrifft.
Nun ist schon fast ein Jahr vergangen seit dem 7. Oktober und wir fragen uns, gibt es so etwas wie einen „gerechten Krieg“? Weit weg von dem Konflikt, aus der sicheren Distanz des heimischen Sofas heraus, ist diese Frage vielleicht leichter zu beantworten. Nicht so einfach fällt die Antwort, wenn aufgrund des anhaltenden Raketenfeuers der Blutdruck steigt. Nicht so einfach, während wir um unsere Gefallenen trauern und nicht so einfach, wenn wir an die Worte des großen Propheten Jeremia denken: „In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen“ (zitiert in Matth. 2, 18).
Zur Zeit geben wir als messianische Gemeinden regelmäßig Hilfe und Trost an die Binnenflüchtlinge aus dem Süden und dem Norden Israels weiter durch Essensausgaben und Kleiderspenden, auch unternehmen wir u.a. Ausflüge mit Familiem, um sie auf andere Gedanken zu bringen und damit die Stimmung etwas zu heben. Finanzielle Unterstützung geht auch an die palästinensischen Christen im abgeriegelten Bethlehem oder an die Hunger leidenden Christen in den Kirchen in Zentral-Gaza. Ich kann nicht mit Worten ausdrücken wie dankbar wir für Ihre finanziellen Zuwendungen und Gebete sind, die es unseren Gemeinschaften ermöglichen, durch diese Akte der Barmherzigkeit zu wirken. Gott sieht das alles.
Wir sollten vorausschauend beten:
Für die soziale und psychologische Rehabilitation unserer Nation und unserer Nachbarn.
Um Mut für die politisch und militärisch Verantwortlichen, dass sie sich den Folgen ihrer Entscheidungen stellen.
Wir brauchen Weisheit, politischen Mut, neue Strategien und einen neuen Politikstil, der eine Co-Existenz anstrebt auf der Basis biblischer Prinzipien von Gerechtigkeit, Vergebung und der Sorge um das Wohl des Anderen vor unserem eigenen Wohl (nach Philipper 2). Was bisher nicht funktioniert hat war die Alles-oder-Nichts-Mentalität, bei der es nur Gewinner und Verlierer gibt.
Dafür, dass ein starkes Zeugnis von der Gemeinschaft der Gläubigen bezüglich der oben genannten Gebetsanliegen ins ganze Land ausgeht. Wir müssen daran festhalten und weiterhin die Einheit zwischen jüdischen und arabischen Nachfolgern von Yeschua im Gebet und in unserer Zusammenarbeit vorleben.
Wer hätte sich jemals vorstellen können, dass wir uns nach einem Jahr immer noch im Krieg befinden? Seit der Staatsgründung gab es unzählige Kriege, die jedoch immer kurz waren. Auf eine kurze Zeit Schmerz und Leid folgte dann die Wiederherstellung. Im jetzigen Konflikt ist jedoch kein Ende der Feindseligkeiten in Sicht. Der Zustand eines nicht enden wollenden Krieges hat enorme Auswirkungen für das Land:
Das Blutvergießen hört nicht auf.- Spaltungen in der Gesellschaft, die zu Beginn des Krieges so gut wie verschwunden waren, treten mehr denn je wieder auf.
Wut und Vertrauensverlust gegenüber der Regierung, sowohl seitens der Bevölkerung wie auch international, erzeugen Bitterkeit und Schuldzuweisungen.
Israel wurde in den Augen vieler Nationen zum Paria und Antisemitismus nimmt weltweit zu.
Unser Hauptwirtschaftszweig Tourismus fällt fast komplett weg. Kriegsführung ist teuer, wer bezahlt dafür?
Hunderttausende unserer Einwohner aus dem Norden und dem Süden sind immer noch evakuiert, weit weg von ihren Arbeitsplätzen, Unternehmen und landwirtschaftlichen Betrieben.
Hunderttausende unserer jungen Männer sind weiterhin an der Front, getrennt von ihren Familien. Sie können nicht in ihren Berufen weiterarbeiten oder an den Universitäten studieren.
Ganze Siedlungen leben unter einem Nebel aus Trauma und Trauer.
Über 100 Israelis sind immer noch in Geiselhaft.
So stellt sich die Realität für uns dar und wir möchten diese „schwarze Liste“ mit Ihnen teilen um unser Gebet von der Politik auf das hin zu lenken, was wirklich wichtig ist.
Im Neuen Testament lernen wir „Liebe deine Feinde und halte die andere Wange hin“, doch Israel ist noch nicht erlöst und reagiert auf Bedrohungen mit der moralischen Einstellung und dem Weltbild des alten Bundes. Das bedeutet, wenn wir angegriffen werden, schlagen wir zurück, und zwar hundertfach. Für die Palästinenser bedeutet das im einzelnen:
Zehntausende tote Palästinenser in Gaza, viele davon Frauen und Kinder.
Ein Großteil des Gazastreifens ist stark zerstört und unbewohnbar.
Momentan hungern mehr als eine Million Menschen in Gaza, unter ihnen die Christen, die in zwei Kirchen Zuflucht gesucht haben.
Andere arabische Länder schicken zwar humanitäre Hilfe, sind aber nicht bereit Palästinenser aus Gaza in ihren Ländern als Flüchtlinge aufzunehmen.
Falls es Israel gelingt, die militärische Infrastruktur der Hamas zu zerstören und sie dann nicht mehr in der Lage sein wird, den Gazastreifen zu regieren, wer wird in Zukunft die Regierung stellen?
Unterstützen Sie uns bitte im Gebet angesichts dieser schrecklichen Zustände. Was wir sehen ist katastrophales menschliches Leid. Als Nachfolger von Yeschua sollten unsere Herzen voller Mitgefühl sein für unser Volk, aber genauso auch für unsere Nachbarn, mit denen wir uns aktuell im Krieg befinden. Beide Seiten brauchen Gottes Errettung durch den Glauben an den Messias!
„Und er antwortete und sprach zu mir: Das ist das Wort des HERRN an Serubbabel: Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der HERR Zebaoth." (Sacharja 4, 6)
Die gesamte Nation ist erschöpft durch die dauernde Anspannung und die herrschende Unsicherheit. Dazu kommen Falschinformationen von beiden Seiten und Trauer und Wut in der israelischen sowie der palästinensischen Gesellschaft. Es ist kein Ende in Sicht und auf beiden Seiten sterben immer mehr Menschen. Krieg ist einfach furchtbar! Vor kurzem wurde berichtet, dass die israelische Armee die Leichen von sechs Geiseln bergen konnte, die von ihren Entführern hingerichtet worden waren. Der psychologische Effekt auf die Nation war verheerend!
Da Kriegsführung in bewohnten Gebieten sehr kompliziert ist, besteht ein hohes Risiko, dabei Zivilisten zu verletzen oder zu töten. Jede Militäroperation verursacht unausweichlich Tragödien, von denen auf palästinensischer Seite ganze Familien betroffen sind. Der Gazastreifen ist ein Ort der absoluten Verwüstung und die Welt war schnell dabei, mit den Fingern auf Israel zu zeigen und es zu verurteilen.
Trotz all dieser schlechten Nachrichten, bahnt sich Gottes Botschaft der Liebe (das Evangelium) seinen Weg in die Dunkelheit. Tausende Einwohner von Gaza stoßen auf christliche Medien wie unsere arabischen Programme von „One for Israel“. Die Reaktionen darauf sind bemerkenswert. Bitte beten Sie für eine reiche Ernte.
Hier ein kurzes Zeugnis, was vor kurzem in Deutschland geschah: Eines unserer Einsatzteams bestand dieses Jahr aus jungen jüdischen, arabischen und deutschen Jesus-Nachfolgern. Sie hatten in einem „Kontaktcafe“ eine Begegnung mit H., einem Moslem aus Gaza, der seine Frau und zwei Töchter im gegenwärtigen Krieg verloren hat. Er selbst war bei Luftangriffen verwundet worden. H. floh nach Ägypten und schaffte es von dort bis nach Deutschland. Hier traf er Teilnehmer unseres Teams und wurde tief berührt durch die Liebe und Einheit besonders zwischen Juden und Arabern. Halil, ein arabischer Christ aus Nazareth, verkündete ihm das Evangelium und in den nächsten Tagen nahm er Jesus als seinen Messias an und wollte getauft werden. Er wird sich jetzt den örtlichen Gläubigen anschließen.
Mittlerweile ist die Situation in Nordisrael sehr fragil. Obwohl man noch nicht von einem vollen Krieg sprechen kann, richten die gegenseitigen Luftschläge, Raketen und Drohnen auf beiden Seiten der Grenze systematisch verheerenden Schaden an. Weite Landstriche in Nordisrael brennen und sind immer noch verwüstet und verlassen. Man fühlt sich erinnert an Szenarien aus dem Propheten Sacharja. Häuser sind beschädigt oder zerstört und eine zunehmende Anzahl von Bewohnern, die nicht evakuiert worden sind, wurde verletzt oder getötet. Vor kurzem wurde eine Gruppe Fußball spielender Jugendlicher in der von Drusen bewohnten Stadt Madj-el-Shams absichtlich von der Hisbollah beschossen, wobei zwölf von ihnen getötet wurden. Ich kenne diese Stadt sehr gut seit meinem Militärdienst. Die ganze Stadt befindet sich in Trauer. Bei einem anderen Vorfall in Nahariya, einer Stadt im Norden, trafen Raketenteile ein Auto und verletzten mehrere Insassen. Dabei wurde unser Bruder in Christus Michael Samara aus dem Leben gerissen.
Sollte Israel eine Bodenoffensive im Libanon starten, besteht das Risiko, dass sich der Konflikt zu einem großen regionalen Krieg ausweitet. Möge Gott uns allen beistehen!
Im September 2024
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